Finale.
Der Termin in der Long-COVID-Ambulanz rückt näher und ich fiebere ihm entgegen. Gedanklich bin ich rund um die Uhr damit beschäftig alles zu sortieren, was die vergangenen fast 2 Jahre passiert ist. Ich versuche, den unglaublichen Groll auf die Ärzteschaft zu bändigen und auf eine rationale Ebene zu bringen. Und ich will bei dem Termin nichts falsch machen, bloss nichts andeuten was auch nur im geringsten in die gefürchtete Psycho-Ecke deutet. Ich setze alle Hoffnung in diesen Termin, seine Vorbereitung nimmt meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch und sie kurbelt tief sitzende Ängste an. Schlaflose Nächte und Tage ohne Kraft und voller Fehler sind die Folge.
Und dann passierts: Kurz vorher erwischt mich Corona ein zweites Mal. Das passiert, wenn Menschen zusammenkommen, und das ist in den meisten Fällen nicht weiter tragisch. Und wieder das gleiche Spiel: ich starte mit hohem Fieber und Schmerzen überall in eine volle Woche, während mein Mann ein bisschen rumhustet und zwei Tage etwas schlapp ist. Neben der krankheitsbedingten Abgeschlagenheit macht sich Panik breit: was, wenn ich den Termin in der Ambulanz jetzt nicht wahrnehmen kann? Wieder zwei Jahre warten? Das packe ich nicht.
Es klappt aber dann doch. Und zum ersten Mal in 2 Jahren nimmt eine Medizinerin mich ernst, hört sich alles an, erteilt mir die Erlaubnis krank zu sein. Ich stammele mich durchs Gespräch und muss sehr viel nachfragen. Die Berge von klinischen Fragebögen sind ermüdend und erschütternd zugleich, denn da werden plötzlich Dinge gefragt über die ich nie nachdachte und die doch so wahr sind. Eben solche Dinge, die so dermassen erfolgreich wegignoriert wurden, dass man sie noch nicht mal vergessen hat – sie sind einfach nicht mehr da.
Es folgt eine sehr ausführliche Diagnostik, und ziemlich schnell ergibt sich ein klares Bild: “sie haben ME/CFS”. Bei der Aussage ging ich dann doch erst mal auf innere Verweigerung, denn natürlich habe ich mich vorher mit meiner Symptomatik auseinandergesetzt. Die von ME/CFS betroffenen waren aber in den Dokus alle diese schwerkranken Menschen, die das Bett nicht mehr verlassen konnten. Dass die auch alle mal “klein angefangen” haben, musste ich auch erst mal kapieren.
Nach dem Ersttermin war ich erst mal erleichtert. Vor allem erleichtert, kein “Psycho” zu sein und was Greifbares in der Hand zu haben. Auch wenn ich mir natürlich ausgerechnet was unerforschtes und nicht heilbares rausgegriffen habe. Die Tatsache, dass ich nun echt viel tun muss um nicht vom “kleinen Anfänger” zum Pflegefall zu werden, wurde mir erst am Tag darauf bewusst.
Nie wieder darf ich meine Belastungsgrenze überschreiten. Klingt so einfach, ist aber in der Realität dann doch etwas komplizierter. Vor allem, wenn man sein ganzes Leben darauf gedrillt wurde über Grenzen zu gehen und das auch gerne getan, sich oft auch darüber identifiziert hat. Hinzu kommt: ich kenne die Grenze nicht, und sie ist nicht fix. Und auch Belastungsfaktoren zu erkennen und richtig einzuordnen ist nicht einfach. Nur genau dieses Pacing ist derzeit das einzig probate Mittel, den weiteren Verfall zu stoppen. Und – traurige Wahrheit – Ziel ist nicht die Wiederherstellung der alten Leistungsfähigkeit, sondern Stagnation. Das Wort an sich ist schon “Bäh”, wenn man aus der Betriebswirtschaft und der Personalentwicklung kommt. Aber: challenge accepted, es hilft ja nix.
Der nächste Schock: sämtliche Therapieansätze sind experimentell. Das heisst, sie werden nicht von der Krankenkasse erstattet. Und so sind schon mit der ersten Monatsration Medikamente und Nahrungsergänzung hunderte von Euro futsch. Plus Hilfsmittel wie Pillendose (ohne bekomme ich das nicht mehr auf die Kette) oder Stützstrümpfe (sexy, nicht wahr?). Bei der Empfehlung einer hyperbaren Sauerstofftherapie zu je 2500 Euro pro Zyklus war ich dann raus. Nicht finanzierbar. Wie das jemand ohne zweites Standbein und mit reduzierter Arbeitsfähigkeit dauerhaft gestemmt bekommen soll ist mir schleierhaft, und auch wir gehören jetzt trotz allem nicht gerade zu den Großverdienern und werden uns einschränken müssen.
Die erneute COVID-Infektion zusammen mit dem Vorbereitungsstress auf den Termin und seinen Folgen brachten mich final in den Crash meines Lebens. Aktuell geht faktisch nichts außer Bett, Couch, Bad. Und die letzteren Beiden sind auch schon wieder eher belastend. Mittendrin in diesem Zustand dann noch ein Folgetermin in der Ambulanz mit weiteren Tests. Die Diagnose wurde darin final bestätigt und ein paar Pläne geschmiedet, wie eine Zukunft trotz ME/CFS aussehen könnte. Die gibt es und die sieht akzeptabel aus, denn der Status Quo kann noch erhalten werden wenn jetzt die richtigen Maßnahmen greifen. Pacing wird das wichtigste Instrument werden und gleichzeitig das, was mir Stand jetzt die meisten Sorgen bereitet: das bin so gar nicht ich, ich muss mich neu erfinden. Und ein paar weitere Herausforderungen stehen bevor: fahrtüchtig bin ich nur eingeschränkt – wie komme ich von A nach B? Kann ich weiter so arbeiten oder muss ich Rente beantragen? Wie finanzieren wir das Ganze, wenn doch noch aufwändigere Therapien nötig werden? Alles noch auf Anfang, alles noch im Werden, alles Scheiße, denn da willst Du mit Mitte 40 eigentlich nicht drüber nachdenken.